Gestörtes Essverhalten oder alles unter Kontrolle?
Letzte Woche hatte ich wieder einmal ein Gespräch über «Ess-Stress». Und zwar mit einer jungen und sehr schlanken Frau. Wir hatten einen gemütliche Kaffeetratsch zusammen und ich erzählte ihr von der «Se-Sa-M Ausbildung» und davon, dass die Themen «Essstörungen» «Essen» und «Figur, oder auch «Körperbild» bei so vielen Menschen Stress bereitet und zwar nicht nur bei denen, die (gemäss Definition) an Übergewicht leiden.
Sofort hakte sie ein und bestätigte: Auch sie leidet seit früher Jugend unter diversen Formen von gestörtem Essverhalten.
Damit ist sie nun etwa die fünfte junge schlanke Frau, die mir das bestätigt, allein in den letzten 2 Monaten. Ein Grund dazu einen Blog zu schreiben...
An gestörtem Essverhalten leiden nur Menschen, die sich nicht im Griff haben?
Allgemein wird von «schlanken Menschen» angenommen, sie hätten «alles im Griff» – hätten sich unter «Kontrolle». Ja, sehr oft trifft das den Nagel sogar auf den Kopf:
Etwas im Griff – unter Kontrolle haben, sind Ausdrücke, die auf ein gestresstes Nervensystem hindeuten. Und genau so fühlen sich viele (vorwiegend) Frauen, wenn es um das Thema Essen und Körper geht: GestrESSt!
(Mehr dazu auch im Blog "emotionales Essen" oder "Folgen von Stress auf Gesundheit...")
Eigentlich ist es doch ungerecht. Auf den ersten Blick ungerecht denjenigen gegenüber, die von der Gesellschaft als willenlos und masslos hingestellt werden, weil sie fülliger sind, als gemeinhin «akzeptiert». Auf den zweiten Blick aber auch allen «Schlanken» gegenüber, die oft stille und verzweifelte Kämpfe führen…
Gestörtes Essverhalten hat viele Gesichter
«Wenn ich ein halbes Stück Kuchen gegessen habe, gehe ich danach joggen, bis ich mich übergeben muss».
«In der Gesellschaft traue ich mich nicht, das zu essen, wonach ich Lust habe- ich knabbere dann Salat um den Schein zu wahren. Zuhause mache ich mich dann hemmungslos über die Kekse her... »
«Ich habe jeglichen Zucker aus meiner Küche verbannt und halte mich strikte an Low-Carb»…
Dies sind nur 3 Beispiele an Aussagen, die ich von Frauen gehört habe, von denen angenommen wird, sie hätten kein gestörtes Essverhalten, bzw. eben alles unter Kontrolle, weil schlank. Ja, sie kontrollieren und zwar krampfhaft (oder KAMPF-haft?).
«Als Kind war ich mollig. Wegen einem Schicksalsschlag habe ich mit Anfang 20 abgenommen. Sofort erntete ich Komplimente. Wenn die Menschen nur wüssten, wie belastend diese Angst ist, wieder zuzunehmen und dann die Anerkennung wieder zu verlieren.»
Mangel an Selbstwert - Ursache für viele Störungen im Essverhalten
Egal ob wir rigiden Ernährungskonzepten folgen, uns nichts erlauben, jede Kalorie zählen, exzessiv Sport treiben um nicht zuzunehmen, oder im Gegenteil scheinbar haltlos essen. Alles sind Verhaltensweisen, die einen gemeinsamen Nenner haben: Die Idee «so wie ich bin/wäre, bin ich nicht ok/liebenswert». Sie sind auf einem Gefühl der Unsicherheit aufgebaut. Es sind Versuche/Strategien unseres Nervensystems in Sicherheit zu kommen oder unsere Gefühle nicht wahrzunehmen. Der Ursprung des Problems ist vielfältig: Traumata, Vererbung, soziale Prägungen, Muster und Erfahrungen, all dies und noch viel mehr kann können Gründe sein.
Gute RatSCHLÄGE?
Kalorien/Punkten zählen, Weglassen von gewissen Lebensmitteln oder Einnahme von Medikamenten, einseitig/exzessiv Sport trieben etc. sind die weit verbreiteten «Rat-SCHLÄGE» und Tipps Vieler, auch von vielen "Fachleuten".
Und vor allem hört man und immer wieder:
Man muss halt Disziplin zeigen. Diese Aussage ist Wasser auf die Mühlen derjenigen, die eisern kämpfen, immer aber in der Angst leben, doch noch zu versagen.
Und auch Menschen, die an Gewicht verlieren möchten, schöpfen immer wieder von neuem Hoffnung, dass es mit dieser Diätmethode doch nun endlich klappen könnte.
Dabei ist es eigentlich auch kein Geheimnis, dass Diäten eben nicht auf Dauer funktionieren und sich anfängliche Erfolge (falls überhaupt) früher oder später ins Gegenteil kehren. Ebenso wenig helfen oft andere Verhaltensänderungen, wie eben vermehrt Sport treiben etc. längerfristig.
Alles was Menschen noch mehr Druck auferlegt, hat gutes Potential, das Problem noch zu verstärken, wenn nicht gleichzeitig Ressourcen geschaffen und etabliert werden.
Neue Wege wagen
Will man das Problem nachhaltig und ganzheitlich lösen, muss man es da angehen, wo es entstanden ist. Dazu ist die Arbeit über die Regulation des Nervensystems eine riesengrosse Hilfe und Unterstützung.
Ja, vielleicht dauert dieser Weg ein wenig länger als eine Crash-Diät.
Dafür aber ist er nachhaltig und ausserdem: Ein Nervensystem, das Wege in die Sicherheit und Selbstannahme gefunden hat, wirkt sich positiv in alle Lebensbereiche aus.
Manchmal braucht es etwas Mut, sich auf diesen Weg zu begeben. Nicht zuletzt deshalb, weil man sich dabei selber «begegnet» und sich dem stellen muss, was man über das Essverhalten, egal in welcher Form, jahrelang versucht auszublenden. Eine achtsame professionelle Begleitung kann oft eine nötige und hilfreiche Unterstützung sein…